Interview mit Beate Dölling über „Du bist sowas von raus“
Liebe Frau Dölling, wie kam dieses Buchprojekt zustande?
Der Gabriel Verlag ist an mich herangetreten mit der Frage, ob ich mir vorstellen könne Geschichten von Kindern aus sozial schwachen Familien zu erzählen, die fiktiv, aber eng an die Realität dieser Kinder angelehnt sind. Ich habe sofort zugesagt, denn zum einen waren und sind soziale Themen schon immer ein wichtiger Teil meiner Arbeit und zum anderen beschäftige ich mich seit über 20 Jahren mit Kindern und Jugendlichen, schreibe für sie und arbeite in meinen Schreibwerkstätten auch eng mit ihnen zusammen. Dazu kommt, dass ich schon lange in Berlin lebe – einer Stadt, in der soziale Missstände vielleicht deutlicher zum Vorschein kommen als in einer deutschen Kleinstadt, obwohl es überall sogenannte „soziale Brennpunkte“ gibt. Wir können also nicht die Augen verschließen, vor Kinderarmut, sozialer Benachteiligung und einer Gesellschaftskultur, die auf die Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft leben, herabschaut.
Sind die Geschichten, die Sie erzählen, echte Schicksale?
Es sind Schicksale, die so passiert sind. Natürlich will ich keines der Kinder aus der Arche vorführen und auch keinen Bericht schreiben. Ich habe also mit der Wirklichkeit gespielt, Elemente aus den Schilderungen gemischt, Realität und Fiktion verwoben. Der wahre Kern ist aber geblieben. Gegengelesen wurden die Texte von Mitarbeitern der Arche, die die Authentizität und Wirklichkeitstreue bestätigt haben.
Wie kann man sich Ihre Recherchearbeit vorstellen? Haben Sie Jugendliche aus sozial benachteiligten Verhältnissen getroffen?
Ich war mehrmals in der Arche in Berlin-Hellersdorf und habe mich unter die Kinder und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien gemischt, die dort hingehen. Ich habe mit ihnen gesprochen, ohne sie jedoch auszufragen, sehr genau auf die Weise geachtet, in der sie über ihre Erlebnisse, über ihren Alltag reden. Man hört doch die Zwischentöne, spürt, was sie bedrückt, was sie verschweigen oder wofür sie keine Worte finden. Ich habe sie erzählen lassen, habe mit ihnen gespielt und sogar getanzt (brasilianische Tanzstunde). Auskünfte über ihre Familiensituation und Lebensumstände, habe ich dann von den Mitarbeitern der Arche bekommen, auch über die Kontaktbereichsbeamtin vor Ort, die ja auch viele der Kinder und Jugendliche und deren Probleme kennt.
Die Mitarbeiter der Arche haben mich sehr offen und freundlich empfangen, mich vertrauensvoll in all meinen Recherchen unterstützt, was ich als Atheistin in einer christlichen Einrichtung sehr geschätzt habe. Niemand hat mich schräg angeguckt, wenn ich nicht mitgebetet habe. Ich durfte auch an einem der Elternfrühstücke teilnehmen, die zweimal im Monat stattfinden, wo die Sozialpädagogen die Gelegenheit nutzen, sich den Problemen der Eltern anzunehmen, deren Kinder sie ja tagsüber in der Arche betreuen. Bei Spaziergängen durch Hellersdorf konnte ich das Gehörte und Gesehene auf mich wirken lassen und „Kulisse schnuppern“, um noch mehr Gefühl für die Lebensbedingungen der Kinder zu bekommen.
Ihre Geschichten sind ganz nah dran an den Jugendlichen. Wie war das Schreiben, die textliche Umsetzung dieser Schicksale für Sie? Was war Ihnen dabei besonders wichtig?
Beim Schreiben habe ich natürlich versucht nachzuempfinden wie sich die Kinder fühlen.
Gerade weil ich viel beobachtet habe und auf Dinge geachtet habe, wie z.B. den Tonfall, in dem eine Mutter mit ihrem Kind spricht und die Reaktion des Kindes darauf, seine Mimik und Gestik. Zugute kommt mir da sicherlich meine langjährige Erfahrung beim Schreiben und der Arbeit mit Kindern. Mein Anspruch ist es, diese Schicksale ergreifend und nah zu erzählen, das aber in Grenzen und ohne einen voyeuristischen Blick aufkommen zu lassen.
Auf eine ganze Reihe von Schimpfwörtern, die fortwährend gebraucht werden, habe ich in meinen Geschichten zum Beispiel verzichtet, „Insider-Vokabular“ jedoch verwendet, um die Geschichten so authentisch wie möglich zu gestalten. Mir geht es vor allem um Toleranz und Respekt gegenüber denjenigen, die am Rand der Gesellschaft leben und dafür braucht man Einblicke. Mit diesem Buch möchten der Verlag, die Arche und ich, als Autorin, Verständnis wecken für das Elend und damit einen Gegenpunkt beispielsweise zu den einschlägigen Talkshows setzen, die sozial schlechter Gestellte verspotten und sie zu reinen Unterhaltungszwecken vorführen.
Was hat Sie während der Arbeit an diesem Buch am meisten berührt?
Das ist sehr schwer zu beantworten, denn wenn Sie sich mit dem Thema intensiv befassen, stürzen Sie förmlich in einen Strudel der unterschiedlichsten Gefühle. Vor allem aber ist es die Hoffnungslosigkeit und Grausamkeit, die so häufig hervordringt und die bedingungslose Abhängigkeit der Kinder ihrer Eltern gegenüber. Viele Kinder müssen Dinge erleben, die man sich gar nicht vorstellen kann. Am schwersten zu schreiben waren für mich definitiv die Geschichten, die von Sadismus und sexuellem Missbrauch handeln. Auch landläufig verbreitete Klischees bewahrheiten sich in erschreckender Weise. Und es ist kaum erträglich, zu sehen, dass Kinder aus dem Teufelskreis, in den sie hineingeboren werden, in den meisten Fällen nicht herausfinden. Hoffnungsvolle Ansätze, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, wie ich sie teilweise in meinen Geschichten habe, bleiben in der Realität leider viel zu oft Fiktion.
Was glauben Sie, kann und muss man tun, um Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen zu unterstützen? Wie beurteilen Sie die Arbeit der Arche?
Bildung, Kulturvermittlung, eine vernünftige Sozialarbeit sind, denke ich, der Schlüssel, um das Problem grundsätzlich anzugehen. Mit einer Erhöhung des Hartz-IV-Geldes um 6 Euro ist niemandem wirklich geholfen. Hier sehe ich die Politik in der Pflicht und einen dringenden Handlungsbedarf. Neben einer politischen Veränderung, sind gegenseitiger Respekt und Toleranz ein ebenso wichtiger Schritt, der aber aus der Mitte der Gesellschaft heraus gemacht werden muss. Ausgrenzung löst mit Sicherheit keine Probleme. Man muss Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien integrieren und ihnen eine Chance geben. Und genau hier setzt die Arche an – sie leistet eine wichtige, sensible und kompetente Arbeit, indem sie sich um die Kinder, Jugendlichen und deren Eltern kümmert. Natürlich gibt es auch andere Einrichtungen, die das mit ihrer, zum Teil ehrenamtlichen Arbeit tun. Ich wünschte mir jedoch generell ein gesellschaftlich größeres Bewusstsein, in Form von Anteilnahme und nicht Herablassung für die Problematik sowie mehr Engagement von den Betroffenen selbst, um sich wieder in die Gesellschaft einzuklinken. Ganz wichtig finde ich in diesem Zusammenhang auch das Thema Verhütung, bzw. Schwangerschaftsregulierung. Bei meinen Recherchen war ich schockiert zu sehen, wie viele Kinder und Jugendliche über den Kindernotdienst in Pflegefamilien, Wohngruppen oder Heimen landen, weil z. B. die auf sich alleingestellte Mutter aufgrund einer Bindungsunfähigkeit, einer Depression oder anderer Probleme die letztgeborenen Kinder vom Jugendamt weggenommen wurden, sie jedoch schon wieder schwanger war.