Ich als eine Verwandlung*

Erfahrungsbericht einer Schreibwerkstatt von Beate Dölling
(erschienen in der Süddeutschen Zeitung)

*Titel ist einer Schreibwerkstatt entnommen

Kinder schreiben. Schreiben, was sie wollen. Drei Tage lang, ununterbrochen. Stifte werden angeknabbert, Füße scharren. Als es klingelt, bleiben einige sitzen.
Die Klassenlehrerin der 3 b sagt, sie habe noch nie erlebt, dass Jonas freiwillig schreibt, und jetzt verpasst er sogar die Pause.
Wir bitten Jonas aufzuhören, auf den Schulhof zu gehen und sich auszutoben.
„Geht nicht“, sagt er. „Ich kann jetzt nicht raus aus meiner Geschichte.“
Man könnte meinen, dieses Kind hielte ein Computerspiel gefangen, aber es hat nur einen Stift in der Hand und ein Blatt Papier vor sich liegen, vollgeschrieben.

Was ist mit all den Kindern geschehen, die hier seit Tagen grübeln, schwitzen und mit Wörtern jonglieren?
Diese Kinder erleben gerade eine Schreibwerkstatt, organisiert von der Akademie der Künste in Berlin, ausgeführt von Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Ich bin eine von ihnen. Ich habe die vier Tage Schreibwerkstatt mit einer Lesung aus einem meiner Bücher begonnen. Anschließend haben wir über dressierte Hühner geredet und die Vor- und Nachteile des Transportierens von Spaghetti in der Hosentasche abgewägt. Die ewigen Streitereien von Eltern waren ein anderes Thema.
Lesung und Gespräche sind bei den von der Akademie der Künste organisierten Schreibwerkstätten der Auftakt zum Selber Schreiben. Die folgenden drei Schultage gehören dann allein den Kindern mit ihren Geschichten.
„Fangt einfach an“, sage ich. „Schreibt was ihr wollt!“
Einige zücken sofort den Stift und legen los, laden alle Gedanken ab. Anderen fällt nichts ein oder sie wissen nicht, wie sie beginnen sollen. „Schreib auf, was dir wichtig ist, was dich bedrückt oder beflügelt.“
Wenn es immer noch nicht klappt, schenke ich ihnen einen Satz, schön verpackt, mit Schleife. Mit dem dürfen sie machen, was sie wollen – weiterschreiben oder vielleicht erinnert sie der Satz an etwas anderes? „Träum dich aufs Blatt! Du kannst nichts falsch machen und es gibt keine Zensuren!“
Könnte die Versuchung größer sein, sich unter diesen Umständen einfach treiben zu lassen und mit dem Füller oder Filzstift festzuhalten, wohin?
Die meisten Kinder haben sich schon längst aufs Abenteuer Schreiben eingelassen; für die, die sich noch nicht trauen, habe ich jede Menge Schreibspiele dabei. Nach mindestens fünfzehn Minuten schreibt jeder, selbst die, die sonst nichts schreiben. Und wenn wir uns später gegenseitig unsere Texte vorlesen, strahlen die Kinder und verlieren die letzte Scheu, denn die Angst, dass der eigene Text vielleicht nicht so gut wird wie der des Nachbarn oder jemand über einen lachen könnte, verschwindet in der Erkenntnis, dass alle Texte „richtig“ und keiner „falsch“ ist, und das Thema kann man auch nicht verfehlen.

„Das ist eben das Schöne an den Schreibwerkstätten…“, sagt Sibylle Reinecke, Lehrerin der Jean-Miró-Grundschule in Berlin-Charlottenburg, die schon einschlägige Erfahrungen mit Schreibwerkstätten gemacht hat – „…dass uneingeschränkt das Interesse der Kinder geweckt wird, sie schreiben dürfen, was sie wollen, völlig zweckfrei, ohne Einleitung, Hauptteil und Schluss. Einfach drauf los. Die Kinder freuen sich, mit Leuten zu arbeiten, die Bücher schreiben. Sie sind neugierig und offen und werden ermutigt zum Selber Schreiben, auch die Kinder, die sonst Schreibhemmungen haben. Und ich, als Lehrerin, sammle ständig neue Erfahrungen, erlebe die Kinder neu, wie sie sich auf eine andere erwachsene Person einlassen und mitgehen. Wie sie Spaß haben und wie gut es ihnen tut. All das öffnet meinen Blick, ist wie eine Fortbildung für mich.“

An der Jean-Miró-Schule finden die Schreibwerkstätten im Rahmen des Kids-Projektes statt. (Siehe Kasten) Dort bin ich seit acht Jahren regelmäßig zu Besuch und arbeite mit Kindern von der zweiten bis zur sechsten Klasse, jeweils eine ganze Woche, einen Vormittag lang. Besonders interessant ist es für mich, z. B. die Kinder aus einer ehemaligen dritten Klasse nach Jahren in einer fünften oder sechsten Klasse wiederzusehen. Oft erinnere ich mich noch an ihre früheren Texte, verbinde Gesichter mit Geschichten.
Wertvolle Sätze schreibe ich auf und verschenke sie in anderen Kursen weiter, an die, die noch zögern. Nach ein paar Tagen Schreibwerkstatt muss ich die Kinder eher stoppen. Das Beispiel Jonas ist kein Einzelfall. Es ist auch schon passiert, dass die Schule aus war und immer noch einige an ihren Tischen sitzen blieben und weiter schrieben. Die mussten wir dann nach Hause schicken, wo sie natürlich weiterschreiben durften.

Es ist unglaublich, was Kinder hervorbringen, wenn sie mal dürfen, wie sie wollen, sich einmal nicht um Orthografie und Satzbau kümmern müssen, wenn man sie das aufschreiben läßt, was sie beschäftigt. Natürlich sage ich den Kindern auch, dass sie Orthografie und Grammatik in der Schule lernen müssen und dass man beim Schreiben wie in jeder anderen Kunst die Regeln beherrschen muss, bevor man sie bricht – was von den Kindern oft mit einem Stöhnen kommentiert wird und von den Lehrern mit einem erleichterten Seufzen. Haben doch einige noch zu Anfang Bedenken, man würde den Deutschunterricht unterminieren.

Auch in einer Schreibwerkstatt werden die Texte besprochen, gemeinsam mit den Kindern. Die Kinder werden langsam an Kritik herangeführt. Normen gibt es beim kreativen Schreiben nicht. Die Kinder wollen uns etwas mitteilen und verstanden werden. Kritik hilft ihnen, zu erkennen, was sie geschrieben haben – auch das, was zwischen den Zeilen steht. Alle Fragen, z. B. nach der Erzählperspektive (erste Person / dritte Person) , Biografie und Fiktion (Wirklichkeit und Erfindung), Kompetenz und Empathie (Wissen und Einfühlungsvermögen) ergeben sich aus den Texten selbst.
Zu einzelnen Punkten können – wenn die Schreibwerkstatt mehrere Tage umfasst – kleine Fingerübungen gemacht werden, wie Phantasietraining oder Portraitskizzen. Die Kinder stoßen beim Schreiben selbst auf die Fragen, die für den Fortlauf ihrer Texte wichtig sind und dann zusammen besprochen werden. Dabei lernen sie nicht nur, mit der eigenen Sprache bewusster umzugehen, sondern werden auch selbstbewusster im Umgang mit schon Gedrucktem; sie trauen sich mit der Zeit, ein Buch wegzulegen, weil sie erkennen, dass es einfach schlecht geschrieben ist.
Über die Schulung der eigenen Kritikfähigkeit hinaus lernen sie das Vorlesen, Zuhören und wie man andere Texte mitgestalten kann.
Natürlich ist für eine Schreibwerkstatt wichtig, die Klasse zu teilen und mit kleinen Gruppen zu arbeiten.

„Die Arbeit aus den Schreibwerkstätten wirkt nach“, sagt Sibylle Reinicke. „Bei Niederschriften wird reflektiert und angewandt, was die Kinder bei den Autoren gelernt haben. Das Schreiben geht ihnen leichter von der Hand. Man hat ihnen die Hemmungen genommen.“

Es gibt aber auch andere Stimmen. Manche Deutschlehrer und –lehrerinnen sagen: Schreiben können wir selber – und zum Lesen engagieren wir arbeitslose Schauspieler auf Ein-Euro-Basis oder bitten Rentner, den Kindern Märchen vorzulesen (bei denen keine Urheberrechte gelten). Das kann zwar eine hübsche Bereicherung sein, ist aber nicht durch professionelle Autorenlesungen und Schreibwerkstätten zu ersetzen.

Jonas aus der dritten Klasse macht jetzt seine Pause. Ein paar Kinder lesen ihre Texte vor. Es ist von brutalen Ärztinnen die Rede, von kakerlakenschleppenden Ameisen, durchsichtigen Hunden, neidischen Freundinnen, explodierenden Weihnachtsmännern und anderen Verwandlungen. Franzi hat eine Liebesgeschichte geschrieben. Beim Vorlesen versteckt sie ihr Gesicht hinter dem Blatt. Den letzten Satz soll ich vorlesen:
„Er küsste sie, ohne dass er es wollte.“
Franzi ist knallrot. Sie wird nicht ausgelacht. Die Kinder klatschen. Franzi geht an ihren Platz. Sie schreibt weiter.